80 Jahre – ein Menschenleben. Für viele von uns ist der Krieg eine historische Tatsache, vermittelt durch Bücher und Dokumentarfilme. Und doch gibt es noch Menschen unter uns, die seine Schrecken erlebt haben: als Kinder in zerstörten Städten, als Vertriebene, als Angehörige, als Überlebende der Konzentrationslager. Ihre Stimmen werden leiser. Umso mehr wächst unsere Pflicht, ihre Erfahrungen nicht verstummen zu lassen.

Wir gedenken heute der Millionen Toten beider Weltkriege: der Soldaten, der zivilen Opfer von Bombennächten und Vernichtungskrieg, der Ermordeten durch Terror und Ideologie. Wir gedenken der Opfer des Nationalsozialismus: der jüdischen Menschen, der Sinti und Roma, der politisch Verfolgten, der Menschen mit Behinderungen, der Homosexuellen, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter – all jener, denen ihre Würde und ihr Leben genommen wurden.
Dieses Gedenken ist kein Blick zurück aus Routine. Es ist ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Selbstverständnisses. Denn wer die Vergangenheit verdrängt, der verliert die Orientierung für die Zukunft.
Gerade in unserer Zeit, in der gewalttätige Konflikte wieder in unsere Nähe rücken, in der Extremismus wächst, in der Hass, Feindbilder und Desinformation erneut gefährlich an Stärke gewinnen, wird uns die Bedeutung des Volkstrauertags eindringlich bewusst. Der Friede, in dem wir leben, ist kein Selbstverständnis – er ist ein täglich neu einzulösendes Versprechen.
Weil wir heute gedenken, sagen wir: **Nie wieder Krieg. Nie wieder Diktatur. Nie wieder Menschenverachtung.**
Aber das „Nie wieder“ bleibt eine leere Formel, wenn wir nicht handeln:
– indem wir Ausgrenzung entgegentreten,
– indem wir für demokratische Werte einstehen,
– indem wir uns für Verständigung und Menschlichkeit einsetzen,
– indem wir die Würde jedes Menschen schützen, unabhängig von Herkunft, Glauben oder Meinung.
Der Volkstrauertag erinnert uns daran, dass Frieden niemals selbstverständlich ist. Er ist verletzlich, er ist kostbar – und er verlangt unsere aktive Mitgestaltung. Frieden wächst dort, wo wir uns bemühen, einander zuzuhören. Wo wir die Würde jedes Menschen achten. Wo wir Hass widersprechen, bevor er zur Tat wird.
In einer Zeit, in der unsere Gesellschaft politisch und sozial unter Spannung steht, in der Angst, Misstrauen und Polarisierung wachsen, ist dieser Tag ein eindringlicher Appell: Wir dürfen nicht zulassen, dass Worte wieder zu Waffen werden. Wir dürfen nicht wegsehen, wenn Menschen ausgegrenzt, bedroht oder entwürdigt werden. Wir dürfen nicht vergessen, wohin Gleichgültigkeit führen kann.
Heute verneigen wir uns vor den Toten. Aber wir tun dies mit dem Bewusstsein, dass ihr Vermächtnis uns verpflichtet.
Wir gedenken – und wir entscheiden zugleich, wie wir leben wollen:
Mit Mut statt Resignation.
Mit Respekt statt Verachtung.
Mit Verantwortung statt Wegsehen.
Möge dieser Volkstrauertag 2025 uns erneut bewusst machen, wie wichtig es ist, Frieden zu schützen, Demokratie zu leben und Menschlichkeit zu bewahren – jeden Tag, im Großen wie im Kleinen.
Ich danke Ihnen.
